Vorläufige Anwendung von EU-Recht

„Das Volk hat das letzte Wort“, sagt der Bundesrat und meint damit, der Neuvertrages gebe der Schweiz das Recht, auch im Vertragsbereich von EU-Recht abweichende Regeln zu erlassen. Schöne Theorie. Das Kleingedruckte zerstört dieses Recht.
Nach Art. 6 Abs. 2 ProtFZA gewährt die EU der Schweiz maximal 3 Jahre Zeit, um die Übernahme von EU-Recht zu beraten und allenfalls einer Volksabstimmung zu unterbreiten.
Beschliesst die Schweiz eine Ausnahme von EU-Recht im Vertragsbereich, dann folgt das Verfahren zur Feststellung, ob die Schweiz hier eigenständige Regeln erlassen darf. Vor dem EuGH dauern Verfahren mitunter sehr lange (im Fall der holländischen Wohnbaugenossenschaften insgesamt 16 Jahre)

Hier nun das Kleingedruckte: Nach Art. 6 Abs. 3 ProtFZA wendet die Schweiz EU-Recht vorläufig an, sobald es in der EU in Kraft tritt, ausser, wenn das unmöglich (nicht etwa unzumutbar) ist, also eigentlich immer.
Was tun die Schweizer Unternehmer? Sie passen ihre Produktionsprozesse, ihre allgemeinen Geschäftsbedingungen und Formulare an EU Recht an. Die Schweiz ergänzt den für die Durchführung nötigen Beamtenapparat, und richtet ihre EDV auf die neuen Vorschriften aus.
Bekommt die Schweiz nach z.B. zehnjährigem Verfahren Recht und kann von EU-Recht abweichende Regeln erlassen, das ganze wieder zurück (Produktionsprozesse wieder ändern, Verordnungen, Allgemeine Geschäftsbedingungen; neue EDV in der Verwaltung und bei Privaten etc.) Die doppelte Umstellung verursacht doppelte Kosten, die Kunden werden zwei Mal verärgert, die Bürokratie muss angepasst werden etc.
Im Beispiel der Arbeitslosenentschädigungen für Grenzgänger zahlt die Schweiz während des Verfahrens vorläufig ihren höheren dreistelligen Millionenbetrag pro Jahr unter Art. 6 Abs 3 ProtFZA des Rahmenabkommens an die Berechtigten. Erhält die Schweiz Recht, und bleibt damit die Pflicht zur Zahlung der Arbeitslosenentschädigungen beim Wohnort, wie soll sie die bereits während des Verfahrens ausbezahlten Milliarden zurückholen? Unmöglich. Die Regel der vorläufigen Geltung von EU-Recht ist ein in der Praxis nicht überwindbares Hindernis für das theoretische Recht der Schweiz, eigenen Regeln zu erlassen.

Die Jungfreisinnigen haben in ihrem Positionspapier vom 8.2.2019
auf dieses Problem hingewiesen.

Mit der „Vorläufigen Anwendungsregel“

wird sich die Schweiz in der Praxis nie eine
Ausnahme von EU-Recht im Vertragsbereich vorbehalten.

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Arbeitslosenentschädigungen für Grenzgänger; Verfahrensdauer

Die Vorteile der bisherigen Bilateralen Abkommen

Insgesamt sind die Bisherigen Bilateralen Abkommen mit der EU ein intelligentes und ausgewogenes Vertragswerk. Haupteffekt ist das Ausräumen unnötiger administrativer Hürden. Werden sie wieder eingeführt, so bürden sich die EU, ihre Mitgliedstaaten, die Schweiz und die beteiligten Akteure aus der Wirtschaft für nichts und wieder nichts den alten, völlig zwecklosen Administrativunsinn wieder auf. Das Vertragswerk ist auch ausgewogen. Jeder findet Rosinen, die der andere gepickt hat.
Essentiell sind die im Freihandelsabkommen 1972 festgehaltenen gegenseitigen Zugeständnisse durch Abschaffung von Zöllen, Importkontingenten und Exportsubventionen. Sie wieder einzuführen, wäre für beide Parteien ein Nachteil. Immerhin könnte man angesichts der WTO-Verträge nicht von einer Katastrophe sprechen. Das gleiche gilt für die WTO-Abkommen bei öffentlichen Ausschreibungen, wo neuere Entwicklungen zu einer Relativierung der EU-Verträge führen.
Ein Wegfall des Konformitätsabkommens würde für beide Parteien neue administrative Lasten mit sich bringen. Immerhin hat sich bei der Weigerung der EU, die Aufdatierungsmechanismen zu bedienen gezeigt, dass die Brancheninsider sich auch ohne Abkommen selbst zu helfen wussten.
Das Forschungsabkommen hat sich zum Box-Sack entwickelt, der immer wieder von der EU benutzt wird, wenn sie mit einem Entscheid der Eidgenossen (Abstimmung oder Verhandlungsabbruch zum Rahmenabkommen) nicht einverstanden war. Nachdem zu erwarten ist, dass sich dieses pubilizitätsträchtige Vorgehen bei neuen Verhandlungen zur ständigen Praxis entwickeln wird, hat das Abkommen stark an Gewicht verloren. Vergleicht man das Gejammer der offiziellen Schweiz mit den effektiven Zahlen, so wird das offensichtlich. Forschung braucht Zuverlässigkeit beim Geldfluss. Wenn die Zusammenarbeit nicht mit solider Zukunft untermauert werden kann, so wird sich die Forschung das Geld, das für das unsichere EU-Forschungsprojekt bestimmt ist, direkt beim Bund besorgen und die direkte Zusammenarbeit von Forscher zu Forscher statt über die EU-Administration pflegen.
Die Verkehrsabkommen wirken sich primär zugunsten der EU-Unternehmen aus. Eine von der Bundesverwaltung in Auftrag gegebene Studie wollte beim Wegfall des Luftverkehrsabkommen einen Schaden von 120 Milliarden Franken für die Schweiz feststellen, u.a. weil Direktflüge aus der Schweiz nach Sardinien, Sizilien, Mallorca, Sevilla, Kreta oder Rhodos nicht mehr möglich seien. Als ob sich die Mittelmeerstaaten nicht um deren nahtlose Fortsetzungen bemühen würden. Auch EU-Geschäftsleute und die Lufthansa wollen Direktflüge und so dürften für den Luftverkehr sehr rasch neue Lösungen gefunden werden. (… Studien, Studien …) Mehr dazu unter den Stichworten Gutachten
Am ambivalentesten sind die Vor- und Nachteile beim Personenfreizügigkeitsabkommen. Beide Parteien vermeiden erhebliche Administrativaufwände bei Ein- und Auswanderung.
Wohl am nützlichesten für beide Parteien ist das Schengen-Abkommen. Die Grenzzäune zwischen Kreuzlingen und Konstanz wünscht sich niemand mehr, ebensowenig täglich zweimalige Kontrollen der EU-Grenzgänger oder der Schweizer Einkaufstouristen. Beiden Staaten nützt die polizeiliche Zusammenarbeit. Das Dublin-Abkommen leidet unter der Fehlkonzeption der EU-Migrationspolitik, die Hauptlast den Mittelmeerstaaten aufbürdet. Die Schweiz profitiert bis zu einem gewissen Grad davon.

Insgesamt sind die
Bisherigen Bilateralen Abkommen mit beidseits bindender Wirkung ein intelligentes und ausgewogenes Vertragswerk.

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Freihandelsabkommen 1972; Gutachten Konformitätsabkommen;
Gutachten Personenfreizügigkeit; Gutachten Stromabkommen; Gutachten Luftverkehr