Rechtssicherheit?
Der Neuvertrag bringt das Gegenteil davon.

Das beginnt im Vertragsbereich bei der Abgrenzung zwischen EU-Recht und Schweizer Recht, was man als Vorfrage zu jedem Prozess im Umfeld der Abkommen bis vor Bundesgericht klären kann. Welche Teile aus dem Meer von Energiegesetzgebung, Umweltschutz, Gesundheitswesen, Lebensmitteln, sollen z.B. neu aufgrund des Strom- oder Lebensmittelabkommens nach EU-Regeln gehen? Krass ist die Unsicherheit bei den hunderten von Regeln in den Beihilfeerlassen (Subventionen, Steuersätze, Entschädigungen für Service Public, Ansiedelungsanreize). Die Abgrenzung bringt zufolge der Vielschichtigkeit notwendigerweise Unschärfen und Lücken. Eine Bonanza für die Juristen. Rechts UN sicherheit in Reinkultur.

Ist einmal entschieden, dass EU-Recht anwendbar ist, kommt die nächste Frage. Was innerhalb der EU-Regeln gilt? Im Neuvertrag gibt es zwar dieverse Listen. Sie sind aber unvollständig, da sie sich nicht über die zahllosen Regeln ausspricht, auf die in den aufgelisteten Erlassen verwiesen wird. Ferner kann die EU ja jederzeit neue Erlasse dazufügen. Was gilt in der Schweiz? Sicher ist nur eines: Rechts UN sicherheit

Noch schlimmer wird’s wenn die Schweiz einmal eine Ausnahme von EU-Recht für sich beansprucht. Dann geht’s zuerst einmal in den Gemischten Ausschuss. Der tagt 1 – 3 Mal im Jahr, vielleicht später mehr. Irgendwann folgt dann möglichweise der «hochrangige Dialog». Einigt man sich nicht, folgt das Schiedsgericht. Das muss zuerst entscheiden, ob EU-Recht betroffen ist. Wenn ja, muss es einen Vorentscheid des EuGH verlangen. Das ganze kann nach heutigen Erfahrungswerten gut und gern 10 Jahre (im Fall der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften 16 Jahre) dauern. Während der Dauer dieses Streitbeilegungsverfahrens gilt EU-Recht. Also Produktionsprozesse, Verwaltungsvorschriften und Formulare ändern, Allgemeine Geschäftsbedingungen umstellen. Gewinnt die Schweiz vor dem EuGH, das ganze nach ein paar Jahren wieder zurück.
Fertig? Nein. Dann kommen die „Ausgleichsmassnahmen“. Wen treffen sie? Was beinhalten sie? Sind sie angemessen? Auch damit einmal mehr vor Schiedsgericht. Ein paar Jahre mehr.

Man wird sich mit Wehmut an die Zustände vor dem Neuvertrag erinnern. Damals galt: Will die EU eine neue EU-Regel für die Schweiz, so wird verhandelt. Einigt man sich, gut. Einigt man sich nicht, gilt weiterhin Schweizer Recht. Einfach, kurz, klar.

Mit dem Neuvertrag:
Mehr Rechts UN sicherheit, mehr Streit

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Unschärfen und Lücken; Streitbeilegungsverfahren; Verfahrensdauern;
Vorläufige Anwendung von EU-Recht; Ausgleichsmassnahmen;
Konfliktstoff mit der EU;

Rettung des Bilaterale Wegs?
Nein der Neuvertrag zerstört ihn

Die heute bestehenden Bilateralen Abkommen mit der EU sind Verträge, in denen die Schweiz und die EU Rechte und Pflichten vereinbart haben. Ist die Geltung von EU-Regeln vereinbart, so sind sie mit wenigen Ausnahmen mit Zitierung und Datum festgelegt. Die vereinbarte Version gilt in der Schweiz. Auch wenn die EU ihre Gesetze ändert. So funktioniert das heute überwiegend geltende statische System der Bilateralen Abkommen.

Kerninhalt des Bilateralen Weges ist: Klare Verträge, die beiden Parteien Vorteile bieten und nur im gegenseitigen Einverständnis abgeändert werden können. Hat man gegenseitig Vorteile vereinbart, kann nicht eine Partei einen Vorteil einfach herausstreichen. Was abgemacht ist, gilt.

Mit dem Neuvertrag ändert sich das. Es gilt die „Dynamische Rechtsübernahme“. Ändert die EU im Vertragsbereich ihre Gesetze, so ist gilt das auch für die Schweiz, auch wenn sie Bibliotheken neuer Regeln beinhalten, oder wenn sie die Schweiz hunderte von Millionen pro Jahr kosten. Sie sind in der Schweiz zu akzeptieren, auch wenn sie Bestimmungen der bisherigen Bilateralen Abkommen abändern. (Art 5 Prot.FZA)

Damit ändert sich der Charakter der Bilateralen Verträge. Nicht mehr, was abgemacht ist, gilt, sondern die neuen Regeln der EU. Wollen wir auf dem mit der EU vereinbarten Stand beharren (nach dem offenbar etwas veralteten Prinzip: Was abgemacht ist, gilt), dann gibt es ein umfangreiches „Streitbeilegungsverfahren“, an dessen Ende wir Sanktionen (unter dem Namen „Ausgleichsmassnahmen“) der EU akzeptieren. So kann die EU z.B. unter der im Neuvertrag vorgesehenen teilweisen Suspendierung von Bilateralen Verträgen die Vorteile der Schweiz streichen und die Nachteile stehen lassen.
Weshalb noch Bilaterale Abkommen abschliessen, wenn wir die Erfüllung der Verpflichtungen der EU nur noch unter Akzeptieren von Sanktionen, z.B. die teilweise oder ganze Suspendierung Bilateraler Verträge verlangen können?Und weshalb sollen wir der EU die „Suspendierung“ von Bilateralen Verträgen erlauben, die wir erst vor kurzem in einer Volksabstimmung wieder bestätigt haben?

Zwei Teile des Rahmenabkommens zerstören den „Bilateralen Weg“

  1. Das Recht der EU, mit neuen Regeln praktisch beliebig von den
    vereinbarten Bilateralen Abkommen abzuweichen, und
  2. Das Recht der EU zur „Suspension“ bilateraler Abkommen, falls sich die Schweiz eine abweichende Regel vorbehalten will
    (dynamische, nicht automatische Übernahme)

Prof. Michael Ambühl, früher Chefunterhändler mit der EU, schreibt es etwas zurückhaltender:

Der bilaterale Weg, wie wir ihn kennen,
wird nicht erhalten,
sondern … grundlegend geändert“ (NZZ vom 29.6.2020)

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Dynamische Rechtsübernahme; Ausgleichsmassnahmen der EU;
Suspension von Bilateralen
Vorteile der Bilateralen für die EU; Rosinenpicken